Meter Mütze privat
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Ich musste meine Mutter entlassen
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Ich musste meine Mutter entlassen

es ging nicht mehr
Nach dem letzten Newsletter wurde ich von einer Leserin angeschrieben, ob ich einen Newsletter nur für sie schreiben würde. Sie bot auch Geld. 

Ich habe ihr abgesagt. 

Weil, was wäre dann mit euch? Es ist wichtig, dass sich Leute auch Gedanken machen, ohne Geld dafür zu verlangen. So fing ich ja schließlich auch an. In der Grundschule, als ich vor der Klasse meine ausgedachten Deutsch-Klassenarbeiten vorlesen musste. Dafür verlangte ich nichts. Dann kam auch schon die Pubertät und das Schreiben war einige Zeit schwierig. Aber so langsam komme ich wieder rein. Um genau zu sein, habe ich erst seit gestern, 10:27 Uhr, das Gefühl, wieder voll da zu sein. 
Back on the scene like a magic machine!

Ihr müsst wissen, ich bin nämlich umgezogen. 

In einen Neubau. Mit Fahrstuhl und Tiefgarage und einem Schlüssel für alles. Dazu Fernwärme statt Gastherme. Es ist tatsächlich so gut gedämmt, ich muss gar nicht heizen. Freut euch mit mir, ja? 

Eine neue Nachbarin, die ich im Innenhof traf und die meine vielfarbige Kleidung auf ihre Weise interpretierte, fragte mich dann ganz beiläufig, ob ich auch einen Job hätte, bei dem ich von zu Hause arbeiten könnte? Sie hatte 30 Jahre in München im Controlling gearbeitet und genau so sah sie auch aus. Die Alte wollte mich hochnehmen.
"Ich bin Busfahrer." 
"Das mit den 9 Euro?"
"Ja, 9 Euro. Nicht einmal Mindestlohn."

Sie verzog das Gesicht. Aber nicht aus Mitgefühl. Zu ihrem Mietbeginn 2012 hätten noch Fremdkinder im Innenhof gespielt. Aus den Sozialwohnungen nebenan. Später am Abend hätten dann die Jugendlichen übernommen.
"Seitdem weiß auch ich, wie das mit den Drogen geht", sagte sie. Dabei sah sie mich prüfend an. Ihr Blick fiel auf meine bunt lackierten Fingernägel. Ich schwieg einen Moment, um das sacken zu lassen. Aber sie hatte noch einen.
"Viele, die hier neu einziehen, verheben sich mit der Miete. Die verrechnen sich und sind nach einem halben Jahr wieder weg."
"Nun, wir haben auch gerechnet", sagte ich, "und um uns diese Wohnung zu leisten, habe ich meine Mutter entlassen. Ich denke wir kommen klar."

Ja, wirklich wahr. 

Ich hatte sie in meiner Firma angestellt, als Backoffice. Manche Unternehmen nennen ganze Abteilungen so, bei mir war es einfach meine Mutter.

"Mama, ich muss Sie leider entlassen."

Ein Satz, den es so in der deutschen Literaturgeschichte noch nicht gegeben hat. Auch nicht bei den Buddenbrooks, einer durchaus geschäftigen Familie. Was kaum jemand bei Thomas Manns Ruhm weiß: Um in Ruhe schreiben zu können, befahl er seiner Frau, seine Kinder den Tag über von ihm fern zu halten. Bei mir ist es nicht so und deshalb schaffe ich nur diese Newsletter. Ihr werdet es mir nachsehen.

Meine Mutter reagierte sehr gefasst und wir einigten uns recht zügig auf einen Auflösungsvertrag. Dabei half, dass wir beruflich per Sie miteinander waren. Im Namen der Firma bedankte ich mich für ihre Leistung und wünschte ihr für den weiteren beruflichen Weg alles Gute. Ja, lacht nicht. Es war zwar meine Mutter, aber jeder Haiku-Dichter wird euch bestätigen: Die Form ist genau so wichtig wie der Inhalt.

Der alte Teich.
Ein Frosch springt hinein -
das Geräusch des Wassers

Versteht ihr was ich meine?

Nach dem Entlassungsgespräch folgten die Telefonate mit der Knappschaft Bahn-See zu den sozialversichungspflichtigen Folgen. Und ich kann euch sagen: Alles, was über die Digitalisierung in Deutschland geschrieben wird, ist wahr. Empathie geht an dieser Stelle an alle raus, die bis zum 31.10. ihre Grundsteuer erklären mussten.

Mit der Entlassung meiner Mutter bin ich auch noch um die Erhöhung des Minijobs von 450 auf 520 Euro herumgekommen. 70 Euro mehr, die noch mehr Beschäftige im Niedriglohnsegment gefangen halten werden, in DHL-Transportern, als Reinigungskräfte, als Newsletter-Autoren, unterhalb ihres Qualifikationsniveaus, ohne Einzahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung oder ETF-Sparpläne oder tokenisierte Turnschuhe. Zusammen mit der Familienversicherung und dem Ehegattensplitting der direkte Weg in die Altersarmut für viele Frauen. 

Aber ich möchte euch nicht mit steuerrechtlichen Details behelligen. Ihr wisst, ich habe Kinder, ich muss mir zu vielen Dingen Gedanken machen.

Zum Beispiel:
In der gegenüberliegenden Wohnung steht morgens ein nackter Mann mit Pferdeschwanz auf einem Stepper, in einem Zimmer voller E-Gitarren. 

Jeden Mittag kommen die Lieferdienste wie Arbeitsbienen auf ihren Ebikes angesurrt und bringen Speisen und Getränke. 

Niemand nimmt das Treppenhaus, alle fahren Fahrstuhl. 

Im Keller riecht es nach alter Maus.

Im Sommer legt sich ein Nachbarsmädchen in einem Meerjungfrauenkostüm in den Garten. Ich hatte sie zuerst für eine Robbe gehalten. Der Hafen ist nicht weit entfernt. In manchen Städten (Würzburg) laufen schließlich auch Waschbären oder Wildschweine herum.

Es wird oft eingebrochen. Manchmal auch am hellichten Tag während der Heimarbeit. Eine Nachbarin kann ihr iPhone in einer der Sozialwohnungen nebenan orten, aber die Polizei kann nichts machen. Wenn der Nachbarin langweilig ist, guckt sie zu, wie ihr Telefon von Raum zu Raum getragen wird.

Most people ignore poetry because poetry ignores most people

Hasse den Tag
Schieb mies Abfuck
Ich finde nicht mein Hollandrad
Rollo kostet auf einmal 5 Euro
Was geht denn bei Taco ab?
Komme nicht klar und Mama sagt
"Hey Macker, du hast halt hart verkackt!"
Gehe in Supermarkt ohne zu bezahlen
Und werd schon wieder gepackt
Dieser Juppie Junge sagt
"Mach' doch mal was aus deinem Leben"
Laber mich nicht voll
Ich mach einen Roundhouse Kick in dein' Schädel
Mama bitte kannst du mir nicht heute 'n Fuffi leihen
Ich such' auch grade Arbeit
Aber die brauchen grade keinen

Du hast verkackt – Geratzt RMX von Donvtello & Tightill


Peace, love & unity,
Meter
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